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Deutsch_HNG Offline



Beiträge: 9

09.03.2009 15:55
Hans Merian: Lumpe als Helden Antworten

HANS MERIAN: Lumpe als Helden

Ein Beitrag zur modernen Ästhetik



Wo immer wir eine Einzelerscheinung unseres Lebens genauer ins Auge fassen, treten sofort die tausend und aber tausend das Individuum mit der Gesellschaft (Milieu) und der Vergangenheit (Abstammung - Darwinismus) verbindenden Fäden und Beziehungen zutage. Unsere Weltanschauung ist also einerseits eine soziale, andererseits eine evolutionistische. Nach dieser ganzen Auffassungsart muss der moderne Bösewicht als ein Kranker erscheinen. Wir haben nicht mehr den dem Himmel trotzenden Verbrecher der Antike, nicht mehr den freiwillig vom Himmel abgefallenen Höllenkandidaten des Mittelalters vor uns, sondern einen Degenerierten, einen Verkommenen.
Nun stehen wir vor der Frage: Darf ein solcher moderner Verkommener, darf eine „Krankheitserscheinung“ zum Mittelpunkt einer Dichtung gemacht werden? oder mit ändern Worten: wirkt ein Lump als Held künstlerisch?
Die alte Ästhetik behauptet: nein!
Wir Modernen behaupten: ja!
Warum „ja“?
Weil alle ästhetische Befriedigung in letzter Instanz aus dem blitzartigen Erkennen der im Kunstwerk nachgebildeten logischen Kausalität des Weltganzen hervorgeht und weil gerade in solchen scheinbar widerlichen und abstoßenden Gestalten, wie sie uns Dostojewski, Zola, die nordischen und jetzt auch die deutschen Realisten vor Augen stellen, dieses Walten der Kausalgesetze und damit der unserm gegenwärtigen Erkennen entsprechende Begriff der von uns an und für sich als höchste Schönheit empfundenen Weltordnung am klarsten und deutlichsten zur Anschauung kommt. Ja wir können geradezu behaupten, dass die Betrachtung solcher Verkommenheiten und die eingehende Analyse solcher Krankheitserscheinungen den höchsten Trost und die höchste Erbauung für den modernen Menschen bilden.

Aus: Theorie des Naturalismus. Hg. v. Theo Meyer, Stuttgart (Reclam) 2008, S. 183-184

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