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Dieses Thema hat 1 Antworten
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 Gerhard Hauptmann: "Die Ratten"
Deutsch_HNG Offline



Beiträge: 9

21.12.2008 17:59
Bruno als Held? Antworten

Er will mit der Sprache heraus, aber die Erinnerung taumelt, die Worte stolpern, der Hergang zerstückelt und viel ist schließlich nicht gewesen. Das Blut fließt ihm aus der Nase, den Kopf nach hinten und den nassen Lappen im Nacken, liegt er wie abgebrochen auf dem Fußboden - kein Baum, den das Schicksal gefällt hat, sondern nur ein Ast, der in die Gegend ragt.

Bruno kommt nachdem er die Pieper-Karcka ermordet hat zu seiner Schwester Frau John, um Geld für seine Flucht vor der Polizei zu erbitten.
„Pinke musste mich jeben, sonst jeh ick verschütt, Jette.“ (Z.2/S.85). Er ist sich demnach über die Konsequenzen seiner Tat bewusst, doch als Frau John fragt, was passiert ist „nanu, wat is? (Z.4) wo kommste her?“, kann Bruno nicht erzählen, wie es dazu kam („nanu, wat is?“), sondern antwortet nur auf die letzte Frage „wo biste jewesen?“ (Z.4-5/S.85). Er habe die ganze nacht getanzt. Nachdem kurz geklärt wurde, welchen Weg Bruno ins Haus genommen hat, muss Frau John erneut nachfragen „na? Und wat is nu jewesen, Bruno?“ (Z.13/S.85). Für Bruno zählt jedoch nur der Augenblick „Jieb Reisegeld! Ick geh verschütt...“ (Z.14), in dem er ins Gefängnis wandern könnte.
Auch als er gefragt wird „und wat haste nu mit det Mädchen jemacht?“, gibt er keine konkrete Antwort, sondern stolpert drum herum. „Et hat Rat jejeben“ (Z.17), also es habe sich eine Lösung gefunden, sagt nicht konkret was passiert ist. Man vermutet, dass wirklich nicht viel gewesen sein kann, da man, wenn wirklich etwas passiert ist, erwartet, dass es aus betroffenem Menschen nur so heraussprudelt. Frau John muss jedoch wieder nachhaken „Wat heeßt det?“ (Z.17), da Bruno nicht in der Lage zu sein scheint, eine zusammenhängende, vollständige Geschichte zu erzählen. „Wat heeßt det?“ beantwortet Brundo wieder unklar und schleicht um eine konkrete Antwort herum „Ich ha ihr soweit wenigsten bissken jefiege jemacht.“, wobei das „bissken“ stark untertrieben ist. Der Hergang zerstückelt und viel ist schließlich nicht gewesen. Bruno versucht seine Schwester durch Anspielungen „Det se nu nochma kommt, jloob ick nich!“ zu verstehen zu geben, dass nochmehr passiert ist, denn er kann es scheinbar nicht auf den Punkt bringen und schert sich nicht allzusehr darum, denn er wirkt nicht sehr aufgebracht „wuddel nicht, Jette!“ (Z.14/S.85)
Er will also tatsächlich erzählen was lost, aber die Worte stolpern und erinnern muss er sich erst noch.
Erst als Frau John erzählt, man habe Bruno mit der Pieperkarcke gesehen, ist er in der Lage mehr zu reden, unterbricht sich jedoch selbst mit einem Lied (Z.31), er scheint nicht ganz bei der Sache, sondern wieder beim vorigen Abend zu sein. Diese Erinnerung veranlasst ihn dazu, auf die Frage „Na und denn?“ (Z.1/S.86) besser antworten zu können, da er nun alles vor Augen hat. Seine Abwesenheit bemerkt man von hier an am stärksten.
(Z.12) Bruno: „Alber’t Jeld is futsch.
Frau John: „wie viel musste haben?“
Bruno (lauscht den Glocken): „Wat denn?“
Frau John: „Jeld!“
Selbst als Bruno das Geld angeboten wird, konzentriert er sich nicht darauf es wirklich zu bekommen, er ist viel zu abgelenkt von dem Glockenläuten der Kirche „Her ma, Jette, de Jlocken läuten!“ (Z.18-19/S.86). Nicht nur der Hergang und die Worte sind zerstückelt, sondern auch Bruno und sein Bewusstsein.
Man könnte vermuten, dass auch er in einer Scheinwelt lebt. Die Situtation fechtet er nicht an, macht das Beste draus, lauscht veträumt den Glocken und erzählt schließlich doch von Pauline (Z.26-27). Bruno ist nur ein Ast, kein Baum. Während seine Schwester diesen Ast aufgehoben hat, um ihn für ihre Zwecke zu benutzen „ihr sagt immer, det ick zu jar nischt nitze bin, ...“ (Z.7-8/S.87), ist er nicht stark wie ein Baum und kann sich nicht gegen sie wenden. Sein Schicksal scheint ihm egal zu sein „denn mach ick Bammelmann“ (Z.2/S.87), denn selbst mit der Gefahr aufgehangen zu werden, lebt er als ob es nichts ist. Er verfügt über keinen eigenen Plan, kein Ziel und was er tut, läuft auf nichts hinaus (Z.2-4). Bruno lässt sich treiben, wie ein Ast der ins Wasser fällt und wie Blut das aus einer Nase strömt. Abgebrochen da, wo er seinen Willen verloren hat. Immerhin haben die Ärzte was zum sezieren, wenn er tot ist.
Er merkt zwar, dass er anders ist (Z.7-8/S.87), aber schafft es, sich trotzdem nicht dumm oder minderwertig zu fühlen, „dann braucht ihr mich.“ Die Erwartungslose Haltung zur Welt ermöglich es ihm sein Schicksal so zu nehmen, wie es kommt, ohne die Schuld zu suchen. Der kleine Ast Bruno fragt seinen Schwesterbaum John nicht, warum sie von ihm erwartet Pauline zu beseitigen, wenn sie doch weiß, was das für Konsequenzen haben könnte, „Det hat ja Vater uff’n Sterbebette zu mich vorausjesacht.“ (Z.30-31/S.86).
Als Bruno Frau John das Hufheisen überlässt, da er es nicht braucht (Z.10/S.88), hat die Situation etwas heldenhaftes. Er ist selbstlos und loyal, auch wenn er als sonderbar und verrückt abgestempelt wird. Ihn scheint nichts daran zu hindern, schnurstracks durch sein Leben zu laufen. Das ist die neue Ästhetik, der böse in dem das Gute lauert. (Hans Merian Z.17-18).
Brunos Krankheitserscheinung (Z.32) ist, dass er anders handelt, als man es ertwartet. Er will gebraucht werden und etwas für Menschen tun, doch durch seine Abgelenktheit (bsp. Glocken S.86) von der Welt schießt er über das Ziel hinaus. Die Gesellschaft macht ihn krank, indem sie ihn als „zu nichts nutze“ (Z.7/S.87) abstempelt und Bruno tritt in die ihm vorgelegte Rolle des bösen Jungen. Er hätte kein schlechter Mensch werden müssen, wenn man ihm nicht erklärt hätte, er wäre einer und ihn auch so behandelt (Frau + Herr John → erschießen ).
Somit hat Bruno das Recht zur Unvernunft und nutzt den eigenen Abgrund, um die Anerkennung seiner Schwester zu erlangen. Eine verrückte Person wie Bruno ist geheimnisvoll, das macht ihn interessant. Zuwendung vom Publikum bekommt er vielleicht erst aus Mitleid, aber schließlich muss man sich eingestehen, dass man sich mit Bruno, mit dem Bösen, mit dem Verachteten immer besser identifizieren kann als mit einem Unschuldslamm.
„Der Lump als Held“ ist das Gesicht, was man nicht zeigt, aber gerne im Spiegel betrachtet, weil es so düster und verständnisvoll zugleich ist. Obwohl man Angst vor der Dunkelheit hat, ist sie anziehend. Das ist das Schöne an Bruno.



Silke Koberski
Deutsch_HNG Offline



Beiträge: 9

09.03.2009 15:45
#2 Dazu passend: "Lumpe als Helden" Antworten
HANS MERIAN: Lumpe als Helden

Ein Beitrag zur modernen Ästhetik

Wo immer wir eine Einzelerscheinung unseres Lebens genauer ins Auge fassen, treten sofort die tausend und aber tausend das Individuum mit der Gesellschaft (Milieu) und der Vergangenheit (Abstammung - Darwinismus) verbindenden Fäden und Beziehungen zutage. Unsere Weltanschauung ist also einerseits eine soziale, andererseits eine evolutionistische. Nach dieser ganzen Auffassungsart muss der moderne Bösewicht als ein Kranker erscheinen. Wir haben nicht mehr den dem Himmel trotzenden Verbrecher der Antike, nicht mehr den freiwillig vom Himmel abgefallenen Höllenkandidaten des Mittelalters vor uns, sondern einen Degenerierten, einen Verkommenen.
Nun stehen wir vor der Frage: Darf ein solcher moderner Verkommener, darf eine „Krankheitserscheinung“ zum Mittelpunkt einer Dichtung gemacht werden? oder mit ändern Worten: wirkt ein Lump als Held künstlerisch?
Die alte Ästhetik behauptet: nein!
Wir Modernen behaupten: ja!
Warum „ja“?
Weil alle ästhetische Befriedigung in letzter Instanz aus dem blitzartigen Erkennen der im Kunstwerk nachgebildeten logischen Kausalität des Weltganzen hervorgeht und weil gerade in solchen scheinbar widerlichen und abstoßenden Gestalten, wie sie uns Dostojewski, Zola, die nordischen und jetzt auch die deutschen Realisten vor Augen stellen, dieses Walten der Kausalgesetze und damit der unserm gegenwärtigen Erkennen entsprechende Begriff der von uns an und für sich als höchste Schönheit empfundenen Weltordnung am klarsten und deutlichsten zur Anschauung kommt. Ja wir können geradezu behaupten, dass die Betrachtung solcher Verkommenheiten und die eingehende Analyse solcher Krankheitserscheinungen den höchsten Trost und die höchste Erbauung für den modernen Menschen bilden.
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